Mit kräftigem Flügelschlag und wachsamen Augen hat ein junges Bartgeier-Weibchen namens Aznaitín kürzlich seinen ersten Flug im andalusischen Naturpark Sierra Nevada absolviert. Keine Selbstverständlichkeit – der eindrucksvolle Greifvogel stammt aus dem Tierpark Berlin und wurde als Teil eines internationalen Artenschutzprogramms in Südspanien ausgewildert. Diese Region war einst die Heimat des Bartgeiers, doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Art dort nahezu ausgerottet.
Gemeinsam mit einem weiteren Jungvogel wurde der Bartgeier aus Berlin durch die Vulture Conservation Foundation (VCF) zu einem schwer zugänglichen Felsvorsprung im Gebirge gebracht. Dort verbrachte der Jungvogel seine erste Zeit in einer Felsnische – ohne direkten Kontakt zum Menschen – und bereitete sich auf das Leben in der Wildnis vor. Wann der richtige Moment für den ersten Gleitflug gekommen ist, entscheiden die Tiere selbst. Das Berliner Jungtier ließ sich in diesem Jahr ungewöhnlich viel Zeit, bevor es schließlich zu seinem ersten Flug abhob – ein spannender Moment für alle Projektbeteiligten. Die jungen Vögel müssen sich an Wind, Licht, Geräusche und Gerüche gewöhnen. Wann sie bereit für den ersten Flug sind, wissen nur sie selbst.
Der Tierpark Berlin beteiligt sich bereits seit 1987 am europaweiten Erhaltungszuchtprogramm für Bartgeier. Seitdem konnten 29 in Berlin geschlüpfte Jungtiere einen wichtigen Beitrag zur Wiederansiedlung dieser majestätischen Vögel in Europa leisten. Bartgeier zählen zu den faszinierendsten Vogelarten des Kontinents. Mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,80 Metern gehören sie zu den größten flugfähigen Vögeln der Welt. Als spezialisierte Aasfresser ernähren sie sich von einer Vielzahl von Tieren, wobei sie in besonderem Maße auch Knochen zu ihrer Nahrung zählen. Sie haben sich darauf spezialisiert, große Knochen zu zerschmettern, um an das nährstoffreiche Mark zu gelangen.
„Bartgeier übernehmen eine entscheidende Rolle in der natürlichen Balance alpiner Ökosysteme“, erklärt Christian Kern, Zoologischer Leiter von Zoo und Tierpark Berlin. „Als spezialisierte Aasfresser tragen sie maßgeblich zur Hygiene in Gebirgssystemen bei, indem sie Kadaver von großen Tieren entsorgen. Jeder Bartgeier, der erfolgreich in Europas Gebirgen wieder angesiedelt wird, stärkt nicht nur die Art und Stabilität der Population an sich, sondern unterstützt auch die gesamte ökologische Struktur und Resilienz, indem er einen wichtigen Teil des ursprünglichen Nahrungsnetzes wiederherstellt.“
Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden Bartgeier zu Unrecht als Bedrohung für Weidetiere verfolgt und verschwanden in vielen Teilen Europas fast vollständig. Dank grenzübergreifender Schutzmaßnahmen und koordinierter Nachzucht gibt es heute wieder stabile Brutpaare in den Alpen, den Pyrenäen und den südspanischen Gebirgszügen. Der Erfolg dieses Programms zeigt, wie gezielte Artenschutzmaßnahmen die Erholung und Rückkehr einer fast ausgestorbenen Art in ihre ursprünglichen Lebensräume ermöglichen können.
Zoo und Tierpark Berlin engagieren sich seit vielen Jahren aktiv für den Schutz bedrohter Arten. In den vergangenen zehn Jahren konnten 341 Tiere verschiedener Arten erfolgreich in die Wildnis entlassen werden – darunter Wisente, Wildpferde, Feldhamster, Moorenten, Waldrappe und andere bedrohte Wildtiere. „Bartgeier wären ohne koordinierte Zucht- und Auswilderungsprogramme heute kaum noch in Europa anzutreffen“, betont Dr. Andreas Knieriem, Direktor von Tierpark und Zoo Berlin. „Die Wiederansiedlung zeigt, wie wir mit wissenschaftlich fundiertem, langfristigem Engagement bedrohte Arten effektiv unterstützen können.“
Fotos: © Teo Sanchez